Liebe ist für alle da

Verwaltungsgericht Köln, Urteil vom 11. Oktober 2011 (Az. 22 K 8391/09):

Tenor

Die Entscheidung Nr. 5682 der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien vom 05.11.2009 (Az.: 605-2334-10/9664) wird aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand

Die Klägerin arbeitet als Herstellerin und Vermarkterin von Tonträgern mit der 1994 gegründeten Rockband „Rammstein“ zusammen. In dieser Eigenschaft vertreibt sie auch das am 16.10.2009 veröffentlichte CD-Album der Gruppe mit dem Titel „Liebe ist für alle da“.

Mit Schreiben vom 20.10.2009 beantragte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bei der Beklagten, das genannte Album in die Liste der jugendgefährdenden Medien aufzunehmen. Zur Begründung führte es aus, die CD beinhalte Liedtexte, die verrohend wirkten und zu Gewalttätigkeit anreizten sowie Textpassagen, die wegen der Verbindung von Sexualität und Gewalt als unsittlich zu bewerten seien. Zudem enthielten auch die CD-Hülle und das Booklet eine Reihe jugendgefährdender Abbildungen. Insgesamt ergebe sich eine Verknüpfung von Sexualität und Gewalt, die als jugendgefährdend einzustufen sei.

Zur möglichen Indizierung angehört, betonte der Verfahrensbevollmächtigte der Klägerin die künstlerische und kulturelle Bedeutung der Gruppe „Rammstein“. Es handele sich um die international erfolgreichste deutschsprachige Band Deutschlands mit mehr als 12 Millionen verkauften Tonträgern. Ihr Werk habe umfangreiche künstlerische Beachtung, ihre Texte Eingang in Schulbücher und Unterrichtsmaterialien sowie Filme und Museen gefunden. Selbst das Goethe Institut habe sie für würdig befunden, die deutsche Sprache im Ausland zu repräsentieren. In dem neuen Album setze sich die Band im Rahmen eines ernsthaften künstlerischen Gesamtprojekts auch mit den Themen Sexualität und Gewalt differenziert auseinander. An keiner Stelle werde jedoch Gewalt verherrlicht oder positiv dargestellt oder Unsittlichkeit propagiert. Die Klägerin legte u.a. zwei Gutachten des Jugendforschers, Soziologen und Sexualwissenschaftlers Prof. Dr. L. T. (ehemals Universität Leipzig) zur Frage der Jugendgefährdung durch Rammsteintexte vor, eines davon konkret bezogen auf das Album „Liebe ist für alle da“. In diesen Gutachten werde im Einzelnen belegt, dass eine Jugendgefährdung von Rammstein-Liedern nicht ausgehe.

Mit Entscheidung Nr. 5682 vom 05.11.2009, bekannt gemacht im Bundesanzeiger Nr. 170 vom 11.11.2009, wurde die CD „Liebe ist für alle da“ samt Booklet der Gruppe Rammstein aufgrund eines Beschlusses des Zwölfergremiums der Beklagten in Teil A der Liste der jugendgefährdenden Medien aufgenommen. Indizierungsrelevant waren laut der noch im Termin verkündeten Entscheidung der Titel Nr. 2 „Ich tu Dir weh“ sowie eine Abbildung im Booklet, in der ein sitzender Mann im Begriff ist, eine über seinem Knie liegende nackte Frau zu schlagen. Am 16.11 2009 wurde der Klägerin die begründete Indizierungsentscheidung zugestellt. Darin ist Folgendes ausgeführt:

Das 12er-Gremium sei zu der Auffassung gelangt, dass das Lied „Ich tu Dir weh“ sowie die Booklet-Abbildung eines zum Schlag auf eine über seinen Knien liegende nackte Frau ausholenden Mannes eine verrohende Wirkung auf Kinder und Jugendliche ausübe. In dem genannten Lied würden in befürwortender und rücksichtsloser Art und Weise drastische Gewaltanwendungen gegen eine andere Person präsentiert, die in hohem Maße geeignet seien, Kinder und Jugendliche gegenüber dem Leiden Anderer gleichgültig werden zu lassen. Zudem werde sadistischen Tendenzen Vorschub geleistet. Auch die genannte Abbildung zeige äußerst realitätsnahe Gewalt und ziehe mit ihrer Inszenierung Parallelen zu einem echten Folterkeller. Dagegen wirke das Coverbild der CD und die Tisch-Bildfolgen wie die Nachbildung eines Renaissancegemäldes zum Thema Stillleben. Die Gefahr der Förderung eines gewalttätigen Umgangs mit Frauen bei Jugendlichen sehe das Gremium hier nicht. Zusätzlich sei das Lied „Ich tu Dir weh“ auch als unsittlich einzustufen, da in Zusammenhang mit der Gewaltanwendung sexuelle Stimulation und damit sado-masochistische Handlungen präsentiert würden, die eindeutig dem Erwachsenenbereich vorbehalten seien. Für Jugendliche sei in dem Lied auch nicht erkennbar, dass es sich hier nicht um eine von mehreren normalen Varianten der Liebe handele, die man kennenlernen solle. Forschungsergebnisse zeigten, dass die Verknüpfung von Sex und Gewalt generell in hohem Maße jugendgefährdend sei. Den Kunstgehalt der Rammstein-CD schätze das Gremium als überdurchschnittlich ein. Aber auch den Grad der Jugendgefährdung stufe das Gremium als erheblich ein, weil Inhalte dieser Art geeignet seien, bei Jugendlichen die Hemmschwelle gegenüber Gewalt und sexuellen Praktiken, die dem Erwachsenenbereich zuzuordnen seien, fallen zu lassen. Diese Wirkungen auf realer Ebene führten dazu, dass hier dem Jugendschutz der Vorrang einzuräumen sei. Die „Tischdarstellungen“ seien nach Auffassung des Gremiums auch für jugendliche Betrachter als Fiktion auszumachen. Gerade die jugendliche Fangemeinde von Rammstein sei mit den Eigenarten der Musikgruppe und mit ihrer Vorliebe, mit übersteigerten Bildern zu arbeiten, vertraut. Ein Fall von geringer Bedeutung schließlich liege angesichts des Grades der Jugendgefährdung und der großen Verbreitung der kürzlich veröffentlichten CD nicht vor.

Mit ihrer am 14.12.2009 erhobenen Klage trägt die Klägerin Folgendes vor:

Die Entscheidung sei bereits aus formellen Gründen rechtswidrig, da die Beklagte das Anhörungsverfahren nicht ordnungsgemäß durchgeführt habe. So sei weder der im Album namentlich benannte Urheber des indizierten Fotos noch der Gutachter Prof. Dr. T. , der eigens ein Gutachten zu dem streitbefangenen Album angefertigt habe, angehört worden. Außerdem sei die der Klägerin eingeräumte Frist zur Stellungnahme unangemessen kurz gewesen. Die Entscheidung der Beklagten sei aber auch materiell rechtswidrig. Der Titel „Ich tu Dir weh“ sei nicht jugendgefährdend. In der Rechtsprechung sei anerkannt, dass eine Jugendgefährdung durch verrohenden Einfluss ausscheide, wenn in der Auseinandersetzung mit Gewalt die notwendige Distanzierung erkennbar werde. Dies sei in dem Lied „Ich tu Dir weh“ ohne weiteres der Fall, etwa durch absurde Überzeichnungen bzw. abstrakte, zusammenhanglose und eher metaphorische Gewaltbeschreibungen, aber auch durch einen musikalisch und textlich hervorgehobenen Wendepunkt in der 5. Strophe, auf den die Beklagte in keiner Weise eingegangen sei. Auf diese Distanzierung habe bereits Prof. T. in seinem Gutachten hingewiesen. Mit diesem Gutachten habe sich die Beklagte aber überhaupt nicht auseinandergesetzt, was ebenfalls ein Begründungsdefizit darstelle. Außerdem habe die Beklagte auch die musikalische Gestaltung ignoriert und den Text unzulässigerweise wie ein Gedicht bewertet. Zudem habe die Beklagte den Liedtext einseitig ausschließlich als „Sado-Maso-Szene“ interpretiert, obwohl die Auslegung, dass der Text von einer Person mit einer Persönlichkeitsstörung handele, die sich selber verletze, mindestens ebenso nahe liege. Obwohl auch der Urheber des Textes selbst den Inhalt so geschildert habe, habe die Beklagte diese Möglichkeit vollständig ignoriert. Das beanstandete Lied könne auch nicht als unsittlich bezeichnet werden, da das hierfür erforderliche Abzielen auf eine Steigerung des Lustgefühls unter Ausklammerung aller menschlichen Bezüge gerade nicht gegeben sei. Vielmehr setze sich der Text gerade mit den Gefühlen gequälter Personen auseinander. Zur Nachahmung für Jugendliche eigne sich der Text nicht. Auch das beanstandete Bild sei nicht jugendgefährdend, da es nicht verrohend wirke. Es müsse im Zusammenhang mit den anderen Fotografien gesehen werden. Insgesamt ergebe sich auch hier eine deutliche Distanzierung durch Verfremdung und erkennbare Inszenierung, wie die Beklagte für die anderen Bilder auch selber erkannt habe. Außerdem habe die Beklagte nicht hinreichend berücksichtigt, dass die beanstandeten Werke der Kunst dienten. Eine konkrete Abwägung der Belange der Kunstfreiheit bezogen auf die beanstandeten Werke habe nicht stattgefunden. Gerade wenn wie hier festgestellt werde, dass sowohl die Belange der Kunstfreiheit als auch die Belange des Jugendschutzes gleichermaßen hoch anzusiedeln seien, müsse eine differenzierte ins Einzelne gehende Abwägung und Betrachtung erfolgen, um beide betroffenen Grundrechte zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Daran habe es die Beklagte fehlen lassen. Insbesondere habe die Beklagte die für die Kunstfreiheit sprechenden Belange nicht hinreichend gewürdigt. Weder habe sie die Einbindung der beanstandeten Werke in das künstlerische Gesamtkonzept des Albums ausreichend berücksichtigt, noch die immense Resonanz, die das Album in Medien und Öffentlichkeit gefunden habe und die durchaus dafür sprechen könne, in diesem Fall der Kunstfreiheit den Vorrang vor dem Jugendschutz einzuräumen.

Die Klägerin beantragt,

die Entscheidung Nr. 5682 der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien vom 05.11.2009 (Az.: 605-2334-10/9664) aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verteidigt die angegriffene Indizierungsentscheidung. Ein Anhörungsmangel liege nicht vor. Die Beklagte habe die Klägerin aufgefordert, etwaige Urheber der Werke zu benennen, damit diese auch angehört würden. Dies reiche nach der obergerichtlichen Rechtsprechung aus. In der Entscheidung habe die Beklagte sich ausführlich und ausreichend mit dem Gutachten von Prof. T. auseinandergesetzt, sei ihm im Ergebnis aber eben nicht gefolgt, was auch ohne besonderen Begründungsaufwand zu treiben legitim sei. Auch habe man durchaus die Möglichkeit einer dahingehenden Interpretation gesehen, dass das Lied von einer schizophrenen Persönlichkeit handele, die sich selbst verletze, sei allerdings der Auffassung gewesen, dass dies für Jugendliche nicht zu erkennen sei. Der Vorwurf, die Beklagte habe die für die Kunstfreiheit sprechenden Belange nicht hinreichend gewürdigt, sei unzutreffend. Vielmehr habe sie den überdurchschnittlichen Kunstgehalt des Albums erkannt und gerade deshalb u.a. die sog. „Tischdarstellungen“ nicht indiziert.

Auf Antrag der Klägerin hat das Gericht mit Beschluss vom 31.05.2010 (VG Köln, 22 L 1899/09) die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage angeordnet, weil die angegriffene Entscheidung nach summarischer Prüfung offensichtlich rechtswidrig sei. Am 01.06.2010 hat die Beklagte daraufhin entschieden, dass das streitbefangene Album aus der Liste der jugendgefährdenden Medien wieder gestrichen wird.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten, auch im Verfahren 22 L 1899/09, sowie die von den Parteien vorgelegten Beiakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet.

Die Entscheidung Nr. 5682 der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien vom 05.11.2009 (Az.: 605-2334-10/9664) ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Rechtsgrundlage für die umstrittene Entscheidung kann nur § 18 Abs. 1 Jugendschutzgesetz (JuSchG) sein. Nach Satz 1 dieser Vorschrift sind Träger- und Telemedien, die geeignet sind, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu gefährden, von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPS) in eine Liste jugendgefährdender Medien aufzunehmen. Zu diesen jugendgefährdenden Medien zählen nach Satz 2 der Norm vor allem u.a. unsittliche, verrohend wirkende sowie zu Gewalttätigkeit, Verbrechen oder Rassenhass anreizende Medien. Gemäß § 18 Abs. 3 Nr. 2 JuSchG darf ein Medium allerdings nicht in die Liste aufgenommen werden, wenn es der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre dient.

Im Verfahren 22 L 1899/09 hat die Kammer zur Frage der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Entscheidung ausgeführt:

„Fraglich ist bereits, ob mit der Begründung der BPS eine hinreichend schwerwiegende Eignung zur Jugendgefährdung (§ 18 Abs. 1 Satz 1 JuSchG) durch das indizierte Medium belegt werden kann.

Die in § 18 Abs. 1 Satz 2 JuSchG genannten Beispiele lassen erkennen, dass eine Indizierung erst bei einem deutlichen Gefährdungsgrad und einer erheblichen Intensität der Gefahr in Betracht kommt. Dies dient als ein erforderliches Korrektiv für den ansonsten unter dem Blickwinkel des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebots problematischen offenen und weiten Begriff der „sittlichen Gefährdung“.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. Januar 1994, 1 BvR 434/87; BVerfGE 90, 1(12ff).

Allerdings verlangt § 18 Abs. 1 Satz 1 JuSchG (früher § 1 Abs. 1 Satz 1 GjSM) mit dem Begriff der Gefährdung keine konkrete oder gar nachweisbare Wirkung im Einzelfall; eine Gefährdung ist vielmehr schon dann zu bejahen, wenn eine nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit angenommen werden darf, dass überhaupt Kinder und/oder Jugendliche durch die dargestellten Inhalte beeinflusst werden können.

Vgl. zum inhaltsgleichen § 1 Abs. 1 Satz 1 GjSM Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteil vom 05.12.2003 – 20 A 5599/98 -, zitiert nach juris.

Vor diesem Hintergrund hat die BPS eine jugendgefährdende Wirkung vorliegend darauf zurückgeführt, dass das Lied „Ich tu dir weh“ und die im Booklet zu der CD enthaltene fotografische Darstellung eines Mannes, der zum Schlag auf das Gesäß einer über seinen Beinen liegenden unbekleideten Frau ausholt, auf Kinder und Jugendliche eine verrohende Wirkung ausübten bzw. unsittlich seien. Diese Einschätzung begegnet nicht nur geringfügigen Bedenken.

Verrohend wirken Medien, wenn sie geeignet sind, bei Kindern und Jugendlichen negative Charaktereigenschaften wie Sadismus und Gewalttätigkeit, Gefühllosigkeit gegenüber anderen, Hinterlist und gemeine Schadenfreude zu wecken oder zu fördern. Dies wird etwa dann angenommen, wenn mediale Darstellungen Brutalität fördern bzw. ihr entschuldigend das Wort reden, was vor allem dann gegeben ist, wenn Gewalt ausführlich und detailliert gezeigt wird und die Leiden der Opfer ausgeblendet bzw. sie als ausgestoßen, minderwertig oder Schuldige dargestellt werden. Als zu befürchtende und zu vermeidende Folge solcher Darstellungen ist eine Desorientierung von Kindern und Jugendlichen im Hinblick auf die im Rahmen des gesellschaftlichen Zusammenlebens gezogenen Grenzen der Rücksichtnahme und Achtung anderer Individuen anzusehen.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 2.03.2009 – 20 A 97/08 – n.v.

Ob das von der BPS beanstandete Lied sowie das auf dem Booklet abgedruckte Bild diese Voraussetzungen erfüllen, erscheint selbst unter Berücksichtigung des Umstands, dass Feststellungen der BPS im Indizierungsverfahren regelmäßig den Charakter sachverständiger Äußerungen haben und damit nur nach den gleichen Maßstäben wie bei einem Sachverständigengutachten in Frage gestellt werden können,

vgl. hierzu etwa BVerwG, Beschl. vom 26.06.1992 – 4 B 1 – 11/92 – NVwZ 1993, 572 – 578,

nicht als unzweifelhaft. Die BPS hat im Rahmen ihrer Erwägungen offensichtlich wesentliche Aspekte für die jugendgefährdende Wirkung nicht einbezogen und damit ihre Begutachtungsaufgabe nicht vollständig erfüllt

Das Lied „Ich tu dir weh“ enthält gerade keine aus einschlägigen filmischen, fotografischen oder literarischen Medien bekannte, detaillierte und zusammenhängende Darstellung von wirklichkeitsnahen Gewaltexzessen, deren jugendgefährdende Wirkung regelmäßig gegeben sein wird. Vielmehr wird hierin entweder eine offensichtlich extreme Abhängigkeitsbeziehung zwischen zwei Personen oder aber ein Konflikt bei einer Person mit gespaltener Persönlichkeit dargestellt, bei der die Gewaltelemente durch entsprechende Satz- und Wortfetzen zumeist lediglich angedeutet bzw. durch Einbeziehung völlig überzogener Bilder („Steck dir Orden ins Gesicht“, „Stacheldraht im Harnkanal“, „Leg dein Fleisch in Blut und Eiter“, „Führ dir Nagetiere ein“) zum Teil surreal übersteigert dargestellt werden. Wie die BPS selbst ausführt, sind jugendliche Fans der Gruppe Rammstein – für eine wesentliche Verbreitung des indizierten Mediums über diesen Kreis hinaus hat die BPS keinerlei Anhaltspunkte vorgelegt – mit deren Eigenarten und ihrer Vorliebe, mit übersteigerten Bildern zu arbeiten, vertraut. Gerade einem „Rammstein“-affinen jugendlichen Hörer dürften sich damit hieraus keine extensiven äußeren Gewalteindrücke aufdrängen, sondern eher ein Anstoß erwachsen, ausgehend von diesen Liedinhalten eigene Assoziationen auf der Grundlage vorhandener Erfahrungen und Einstellungen zu entwickeln.

Keine hinreichenden Beleg liefert der Bescheid der BPS zudem für den Vorwurf, das Lied stelle in befürwortender Art und Weise dar, wie einem anderen Menschen ohne jegliches Mitgefühl und ohne jede Reue seitens der handelnden Person schlimmste Schmerzen und Verletzungen zugefügt würden. Insbesondere vermag die Paraphrasierung des Liedtextes für sich genommen nach den vorstehenden Ausführungen den erhobenen Vorwurf nicht zu stützen. Soweit sich die BPS insoweit auf vermeintlich befürwortende Passagen („Egal. Erlaubt ist, was gefällt“; „Ich tu dir weh. Tut mir nicht leid“) bezieht, unterlässt sie einerseits eine Rückbeziehung auf das immer wieder betonte künstlerische Stilmittel der Gruppe Rammstein, ihre Texte aus der Sicht des „Bösen“ darzubieten, ohne damit die Übernahme dieser Rolle als erstrebenswert zu propagieren, und blendet zudem den im Verhältnis zu den übrigen völlig gegensätzlichen Inhalt der fünften Strophe weitgehend aus. Gerade das hierin verwendete Bild des vermeintlichen „Opfers“ als Schiff und des „Täters“ als Kapitän sowie die im Zusammenhang damit gestellte Frage nach dem Ziel der (gemeinsamen) Reise hätte in eine Gesamtbetrachtung der vermeintlich jugendgefährdenden Wirkung des indizierten Liedes einbezogen werden müssen, da die hierin liegende Aussage in erheblicher Weise der in den übrigen Strophen des Lieds von der BPS konstatierten Gleichgültig- und Rücksichtslosigkeit widerspricht. Dies gilt umso mehr, als gerade in diesem Teil des Lieds auch der von der BPS „als Steigerung der verrohenden Aussage“ besonders hervorgehobene „von Rammstein gewohnte Metal-Stil“ mit „seiner martialisch klingenden Männerstimme“ gegenüber deutlich leiseren Klängen zurücktritt und dadurch diese nachdenklichere Aussage unterstreicht.

Auch von der auf dem Booklet abgedruckten fotografischen Abbildung eines zum Schlag auf das Gesäß einer auf seinen Knien liegende Frau ausholenden Mannes dürften wohl nur schwerlich verrohende Einflüsse in dem oben dargestellten Sinn ausgehen. Die BPS spricht insofern selbst von einer „Inszenierung“ bzw. einer „Maskierung“, betont also den „künstlichen“ Charakter der Darstellung. Wieso allein wegen der (offensichtlich gleichfalls inszenierten) „enorme(n) Aggressivität“ im Gesichtsausdruck des dargestellten Mannes bzw. der im Verhältnis zu den übrigen von der BPS nicht beanstandeten Darstellungen in dem Booklet weniger spektakulären Dekoration der Szene für die jugendliche Fangemeinde der Gruppe gerade diese Darstellung im Gegensatz zu den zum Teil in ihrer Aussage deutlich drastischeren übrigen fotografischen Darstellungen nicht ebenfalls als „künstlich“ oder „inszeniert“ erkennbar sein soll, erschließt sich aus der im Bescheid enthaltenen Begründung nicht.

Letztlich bedarf die Frage der zutreffenden Feststellung einer jugendgefährdenden Wirkung der streitgegenständlichen CD aber keiner abschließenden Bewertung, weil die angefochtene Entscheidung jedenfalls den weiteren an eine rechtmäßige Indizierung zu stellenden Anforderungen offensichtlich nicht genügt.

Ein Medium darf gemäß § 18 Abs. 3 Nr. 3 JuSchG u.a. dann nicht in die Liste jugendgefährdender Medien aufgenommen werden, wenn es der Kunst dient.

Die Bundesprüfstelle hat den Kunstcharakter der indizierten CD, was ausgehend vom maßgeblichen weiten Kunstbegriff nicht zu beanstanden ist, bejaht und den Kunstgehalt als überdurchschnittlich hoch eingestuft.

Allein der Kunstcharakter eines Mediums steht jedoch seiner Indizierung noch nicht entgegen. Vielmehr sind im Sinne einer praktischen Konkordanz der Belange des Jugendschutzes einerseits und der Kunstfreiheit andererseits beide Belange im Einzelfall gegeneinander abzuwägen, und zwar unabhängig davon, ob es sich um ein schlicht jugendgefährdendes oder um ein schwer jugendgefährdendes Medium handelt.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. November 1990 – 1 BvR 402/87 – BVerfGE 83, 130 (143), BVerwG, Urteil vom 26. November 1992 – 7 C 22/92 – NJW 1983, 1490.

Eine fehlerfreie Abwägung setzt dabei eine umfassende Ermittlung der beiden widerstreitenden Belange voraus.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Februar 1998 – 6 C 9/97 -, NJW 1999, 75 (76).

Dabei reicht es im allgemeinen aus, wenn im Rahmen der Abwägung die Gewichtung der widerstreitenden Belange soweit eingegrenzt wird, dass – jedenfalls – das im Einzelfall gebotene Mindestmaß an Differenzierung erreicht wird, das erforderlich ist, um eine dem Ergebnis angemessene Abwägung der beiderseits in die Waagschale zu legenden Gesichtspunkte vorzunehmen. Daher hängt der Umfang der durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gebotenen Ermittlungen wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab: Je mehr sich die Waagschalen dem Gleichgewicht nähern, desto intensiver muss versucht werden, die beiderseitigen Wertungen abzusichern und auch Einzelgesichtspunkte exakt zu wägen, die möglicherweise den Ausschlag geben; ist dagegen ein Belang stark ausgeprägt und eine Diskrepanz zu den auf der anderen Seite betroffenen Belangen von vornherein offenkundig, dann ist es nicht notwendig und wäre somit unverhältnismäßig, die Gewichtung der beiderseitigen Belange weiter zu betreiben, als es zur Feststellung eines eindeutigen Übergewichts einer Seite geboten ist.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Februar 1998, a.a.O.

Ohne vorherige Gewichtung der einander konkret widerstreitenden Belange Kunst- und Jugendschutz ist die nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vorzunehmende Abwägung, bei der der Bundesprüfstelle noch ein Beurteilungsspielraum zusteht, jedoch nicht möglich, da nicht auszuschließen wäre, dass allein durch die fehlende konkrete Würdigung des einen Belangs das Gewicht des anderen übermäßig stark bewertet und so in die Abwägung eingestellt würde.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. August 1996 – 6 C 15/94 -, NJW 1997, 602 (603).

Diesen Anforderungen genügt die vorliegende Entscheidung der Bundesprüfstelle nicht. Weder hinsichtlich der auf der Seite des Jugendschutzes noch der der Kunst einzustellenden Abwägungskriterien enthält sie im Blick hierauf eine hinreichend ausdifferenzierte Bewertung. Ausgehend von dem auch nach Auffassung der BPS überdurchschnittlich hohen Kunstwert der indizierten CD hätte es einer eingehenden und alle Erkenntnismöglichkeiten nutzenden Ermittlung und Gewichtung der für die auf beiden Seiten der Waagschalen anzusetzenden verfassungsrechtlichen Schutzgüter Jugendschutz und Kunstfreiheit bedurft, die vorliegend von der BPS nicht geleistet worden ist.

Bereits im Zusammenhang mit der generellen Frage der Eignung der beanstandeten Darstellungen zur Jugendgefährdung wurde ausgeführt, dass die BPS hierbei wesentliche Aspekte entweder nur unzureichend gewürdigt oder gar völlig unberücksichtigt gelassen hatte. Zusätzlich zu den auf ihre vermeintlich verrohende Wirkung bezogenen Einwendungen findet auch hinsichtlich der Einstufung des Liedes „Ich tu dir weh“ als unsittlich eine hinreichende Auseinandersetzung mit den hierfür maßgeblichen Voraussetzungen nicht statt. Es wird nicht begründet, warum bereits die bloße Darstellung sado-masochistischer Handlungen – sofern der Liedtext in dieser Weise zu interpretieren sein sollte – für sich genommen geeignet sein könnte, mit den Texten und der Musik von Rammstein konfrontierte Jugendliche in ihrer sexuellen Entwicklung zu beeinträchtigen. Hierzu besteht jedoch Anlass, da eine neutrale Schilderung entsprechender Vorgänge sich vielfach auch in Presse, Funk und Fernsehen finden. Eine Propagierung entsprechender Praktiken als nachahmenswert oder gar eine allein der Aufstachelung des Geschlechtstriebs dienende Darstellung, deren jugendgefährdende Wirkung nach der Spruchpraxis der BPS sowie der Rechtsprechung regelmäßig gegeben sein wird, hat die BPS hingegen gerade nicht festgestellt.

Defizitär ist aber andererseits auch die konkrete Gewichtung der künstlerischen Bedeutung des indizierten Mediums, die nicht wesentlich über die Feststellung, es habe einen überdurchschnittlichen Kunstwert, hinausgeht. Ausgangspunkt hierfür hat zu sein, ob und in welcher Weise die Belange der Kunst durch das Kunstwerk befördert werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind hierbei zunächst einmal die Reaktionen von Publikum, Kritik und Wissenschaft auf das Kunstwerk zu berücksichtigen. Entsprechende Anhaltspunkte, die die Antragstellerin mit ihrer Stellungnahme im Rahmen der Anhörung übermittelt hatte, werden von der BPS im wesentlichen nur unter dem Aspekt der in den Rezensionen angesprochenen Bedenken gegen die spezifische Behandlung der problematischen Themen „Gewalt“ und „sexuelle Gewalt“ und damit letztlich allein unter jugendschutzrechtlichem Blickwinkel gewürdigt. Ob und in welcher Weise die gewählten Themen und Darstellungsformen allerdings gerade als Ausdruck des künstlerischen Werts aufgefasst werden, wird hingegen nicht einmal ansatzweise thematisiert.

Bei den Kriterien, die das Kunstwerk selbst betreffen, soll zudem unter anderem danach zu unterscheiden sein, ob die den Jugendlichen gefährdenden Darstellungen künstlerisch gestaltet und in die Gesamtkonzeption des Kunstwerks eingebettet sind, oder ob sich diese Passagen nicht oder nur lose in ein künstlerisches Konzept einpassen. Hierzu ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts eine werkgerechte Interpretation erforderlich. Eine solche wird von den formalen und inhaltlichen Ansprüchen auszugehen haben, durch die das Kunstwerk sich selbst definiert. Als Hilfskriterien hierfür können freilich auch Erläuterungen des Künstlers selbst oder in Darstellungen derartiger Horizonte des um die Publizierung bemühten Rechteinhabers herangezogen werden. Die hierzu getroffenen Feststellungen der BPS sind unzureichend. Zwar werden CD-Inhalt, Booklet und Inlay insgesamt als einer bestimmten Thematik folgend dargestellt. Keiner eigenständigen Bewertung unterzogen werden allerdings die letztlich für die jugendgefährdende Wirkung der CD verantwortlich gemachten Bestandteile, nämlich zum einen das Lied „Ich tu dir weh“ und zum anderen die Fotografie des zum Schlag auf die vermummte Frau ausholenden Mannes. In welcher Weise sie in das künstlerische Gesamtkonzept eingepasst sind und welche relativierende Wirkung auch dieser Umstand auf eine von ihnen etwa ausgehende jugendgefährdende Wirkung haben kann, wird von der BPS nicht thematisiert. Zutreffend hat die Antragstellerin bei dieser Sachlage darauf hingewiesen, dass sich in einer solchen Situation ggfs. weitere Ermittlungen, wie etwa die Anhörung des Fotokünstlers oder aber die Einholung eines eigenen Sachverständigengutachtens hätten aufdrängen müssen.

Angesichts der Vielzahl der aufgeführten Defizite bei der Ermittlung des erforderlichen Abwägungsmaterials spricht Überwiegendes dafür, dass das Abwägungsergebnis seinerseits unter einem nicht reparablen Fehler leidet. Bei fehlender Feststellung eines eindeutigen Übergewichts der Belange des Jugendschutzes gegenüber dem überdurchschnittlich hohen künstlerischen Wert des indizierten Mediums ist eine rechtmäßige Abwägung nur dann gegeben, wenn die gebotenen Wertungen auf beiden Seiten weitestgehend abgesichert und auch unter Berücksichtigung solcher Einzelheiten erfolgt ist, die möglicherweise den Ausschlag geben. Dies lässt sich nach den vorstehenden Erwägungen derzeit nicht feststellen.“

An diesen Ausführungen hält die Kammer nach nochmaliger Überprüfung auch im Rahmen des Hauptsacheverfahrens fest. Maßgeblich für die Entscheidung sind danach die dargestellten Defizite bei der einzelfallbezogenen Abwägung zwischen den Belangen des Jugendschutzes einerseits und der Kunstfreiheit andererseits.

Der (alleinige) von Beklagtenseite gegenüber den Ausführungen des Gerichts im Verfahren 22 L 1899/09 erhobene Einwand, die Kammer habe den Konsens der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur verlassen, indem sie bei der Bewertung des Vorliegens einer Jugendgefährdung grundsätzlich nicht mehr auf den sog. „gefährdungsgeneigten Minderjährigen“, sondern auf den „gefährdungsgewöhnten Minderjährigen“ abgestellt habe, geht fehl. Die Kammer hat in ihren Darlegungen vielmehr beanstandet, dass die Beklagte im Rahmen der tatbestandsmäßigen Prüfung der Jugendgefährdung i.S.v. § 18 Abs. 1 JuSchG den Kreis der Rezipienten des indizierten Mediums in keiner Weise näher bestimmt hat. Da eine jugendgefährdende Wirkung das Bestehen hinreichender Anhaltspunkte dafür voraussetzt, dass ein nennenswerter Teil der Jugendlichen die Texte in der von der Beklagten angenommenen Weise verstehen wird,

vgl. hierzu BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 10.09.2007 – 1 BvR 1584/07 -, Rn. 24, in: NVwZ-RR 2008, 29; auch in juris;

die Beklagte bei der Bewertung der unbeanstandeten Darstellungen im Booklet aber selber darauf hingewiesen hat, dass die jugendliche Fangemeinde von Rammstein mit deren spezifischer künstlerischen Ausdrucksweise vertraut ist, hätte es bereits bei der Feststellung der Jugendgefährdung weiterer Darlegungen zur Frage bedurft, ob überhaupt von einer wesentlichen Verbreitung des indizierten Liedes über die jugendliche Fangemeinde von Rammstein hinaus ausgegangen werden kann.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

5 Gedanken zu „Liebe ist für alle da

  1. Pingback: Schafft die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien ab! : Burks' Blog

  2. Michael

    Erstmal Danke für die ausführliche Dokumentation.

    Also ist die Bundesprüfstelle mal wieder hochoffiziell gerichtlich festgestellt bei einem Angriff auf das Grundrecht der Kunstfreiheit erwischt worden – und nicht zum ersten Mal, vielmehr sind die mit ihren verfassungsfeindlichen Aktivitäten langjährige Intensivtäter. Logischerweise müssten dort also schon längt bis hinauf zum Vorstand eine Menge V-Männer des Verfassungsschutzes drinsitzen. Deshalb kann man sie auch nicht abschaffen. :-)

  3. Pornoanwalt Beitragsautor

    YouTube sagt: „Leider ist dieses Video, das Musik von UMG enthält, in Deutschland nicht verfügbar. Die GEMA hat die Verlagsrechte hieran nicht eingeräumt.“

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